Essbare Stadt
Durch gezielten Anbau in der Stadt könnten alle ökologisch ernährt werden
Langfassung des Artikels von Gabriele Wittmann in der Nordnetz-Zeitung Nr. 4
Lokal produzieren. Nicht spritzen. Die Tiere schützen. So könnte die Zukunft aussehen: Die Bevölkerung Hamburgs baut auf öffentlichen Grünflächen Gemüse und Obst an. Ernten kann jeder. Die Nutzpflanzen dürfen auch von Vögeln, Mäusen und Insekten als Nahrungsquelle genutzt werden, dafür bestäuben sie und sorgen für reiche Ernte.
Ein paar Blüten, Blätter, Früchte und Stengel sind angefressen. Das bedeutet es eben, mit Tieren zu teilen: Permakultur als Anbaumethode arbeitet mit geschlossenen Dünge-Kreisläufen und vielfältigen Pflanzen, die sich vertragen und „Schädlinge“ so in Schach halten, dass alle – Mensch und Tier – etwas davon haben. Aber eben nur etwas, nicht alles.
Diese Art zu denken bedeutet, eine andere Vorstellung von „Wirtschaft“ und „wirtschaften“ zuzulassen. Es geht um etwas Größeres, das uns als Menschen übersteigt, das auch die Wahrnehmung für die Tier- und Pflanzenwelt öffnet. Und das über das Individuum hinauszuweisen scheint.
Andere Hausnummer
So könnte es aussehen, wenn Hamburg das Konzept der „Essbaren Stadt“ übernehmen würde.
Andernach im Südwesten Deutschlands hat das bereits erfolgreich umgesetzt: Moderiert von Initiatorin Heike Boomgarden haben die Einwohner Ideen und Orte gesammelt. Der Stadtgraben ist inzwischen bewachsen mit essbaren Dahlien und Mangold, entlang der hohen Mauern ziehen sich Stangenbohnen, durchsetzt mit Mohnblüten. Die wiederum ziehen Insekten als Bestäuber an, der Kreislauf ist wohl durchdacht. Und die Bürger sind eingeladen, sich kostenlos an den essbaren Pflanzen zu bedienen.
Das Konzept aus Andernach ist eine ganz andere Hausnummer als das in Hamburg bislang bekannte „Urban Gardening“. Es geht nicht darum, ein paar Hochbeete in St. Pauli aufzustellen oder auf einem brachliegenden Areal. Mobile Beete sind zwar eine Bereicherung; ihre Blüten erfreuen die Herzen und sie regen Mitmenschen dazu an, die Zusammenhänge der Natur zu beobachten und das Entstehen und Vergehen von selbst angebauter Nahrung zu begreifen. Die Wertschätzung dieser Phänomene wird sicher dadurch steigen.
Doch das großflächige Konzept einer „Essbaren Stadt“ braucht viel mehr vernetzte Fläche, mehr Planung, mehr Kontinuität, Pflege, Vernetzung und Rückhalt in der gesamten Bevölkerung. Dann wäre es machbar – wenn sich die Regierung ein „grünes Ernährungsband“ auf die Fahnen schreiben würde.
Studie der HCU
Dass die Versorgung der Stadt mit ökologisch produzierten Lebensmitteln viel radikaler angegangen werden könnte, das zeigte 2016 eine Masterarbeit aus einer Hamburger Universität, die für Aufsehen sorgte. Die Zeitschrift Schrot & Korn berichtete damals von Sarah Josephs Studie, die sie an der HafenCity Universität durchgeführt hatte.
Nach Joseph´s Recherchen könnte ganz Hamburg ökologisch ernährt werden, wenn man Bauern in einem Umkreis von 100 Kilometern biologisch produzieren ließe und die Bewohner ihren Fleischkonsum senkten auf 1-2 Mal pro Woche.
Auch der Spiegel griff die Studie auf, kritisierte allerdings, dass sie von der Regionalwert AG unterstützt wurde – einer Organisation, die durch die Ausgabe von Bürger-Aktien Kapital sammelt und es in regionale Bio-Betriebe investiert. Ganz neutral sind die Ergebnisse also nicht.
Zu fragen bleibt jedoch: Warum wurde die Studie nicht weitergetrieben? Warum „zündete“ sie nicht ein Feuer weiterer Studien, die endlich die Mär vom „gesunden“ (totgespritzten) Land weit draußen beenden und aufzeigen würde, welche stadtnahen, regionalen Möglichkeiten es gäbe, gesunde Nahrung zu produzieren?
Ausgereifte Planung
Das Resultat aus Andernach zeigt: Entgegen vorheriger Bedenken gibt es dort heute weniger Vandalismus, auch die Jugendlichen respektieren die durch die Hände ihrer oder ihrer Eltern entstandenen Früchte.
Neben den vielen Stadtgärten im Zentrum von Andernach ist am Ortsrand ein ganzer Hügel umfunktioniert worden, auf dem ein gemeinnütziger Betrieb gegründet wurde, der in Permakultur das ganze Jahr über Nahrung anbaut. Das Prinzip: Ökonomische Erträge bei hoher Arten- und Biotopvielfalt. Wenn die Erträge in der Stadt abgeerntet sind, können die Bewohnerinnen und Bewohner noch Bio-Nahrung vom „Hügel“ kaufen. Zu günstigen Preisen. Und das ganz bequem in einem Genossenschaftsladen in der Innenstadt.
Nachhaltig und zukunftsfähig
Wie viel man selbst auf kleinen Grund zur Versorgung der Bevölkerung anbauen könnte, das lässt sich erahnen in dem 500 Quadratmeter großen Kleingarten von Oliver Hasse im Langenhorner Diekmoor: Auf einer Anbaufläche von 60 Quadratmetern gedeihen 12 Tomatenpflanzen, 3 Gurken, 40 Kartoffelpflanzen, 6 Kürbisse, 5 Auberginen, je eine lange Reihe Buschbohnen, Erbsen, Mangold, Rote Bete, Möhren und Zwiebeln, Kohlrabi, Spitzkohl, Staudensellerie, Pastinaken. Dazu wachsen noch Kräuter wie Gewürzfenchel oder Koriander. Vier Apfelbäume und zwei Zwetschgen liefern neben Himbeeren, Johannis- und Brombeeren reichlich Obst, ein Tagpfauenauge ruht sich auf einer Blühstaude aus. Für Mensch und Tier ist hier gesorgt. Bewässert wird alles durch Tröpfchenbewässerung, so wird kein Wasser verschwendet und der Boden bleibt locker.
Vielleicht ist Hamburg auch reif dafür, eine „Essbare Stadt“ zu werden? Dann müsste sich die Regierung nur darauf besinnen, die Kleingärten und die Felder und Äcker der Bauern in allen Hamburger Himmelsrichtungen nicht wie geplant hektarweise mit großen neuen Wohnvierteln zu bebauen und zu versiegeln. Sondern stattdessen auf die zukunftsfähige Ernährung der Menschen zu setzen.
Vorteile hätte es viele: Gesunde Ernährung senkt Krankenkosten. Zusammen mit dem täglichen Erleben des Wachstums von Obst und Gemüse, von sprießendem Grün und duftender, gesünderer Luft steigert es die Lebensqualität in allen Stadtvierteln erheblich. Die Biodiversität nimmt zu, aussterbende Insekten und Amphibien erhalten wieder Lebensgrundlagen. Und den Menschen wird die Endlichkeit von Natur und ihre für uns lebenserhaltende Funktion begreiflich. Mit den Händen. In dem Dreck, der das wahre Gold ist: zwischen den Milliarden von Mikroorganismen, die einen Quadratzentimeter fruchtbare Erde ausmachen.
Machbar wäre es. Man müsste „grün“ nur wirklich wollen.
Gabriele Wittmann
Über das Projekt Essbare Stadt in Andernach: www.andernach.de
Die Studie von Sarah Joseph: „Can regional, organic agriculture feed the regional community? A case study for Hamburg and North Germany“. HCU, Studiengang Resource Efficiency in Architecture and Urban Planning, 2016.